Ein Glas auf die Nymphe
Ein Glas auf die Nymphe Lesezeit: ca. 2 Minuten Vier Sätze hatte ich ausgesprochen, bevor er mich zu sich nachhause einlud, vier Sätze, die ihm genügten, um mich als Gast an Heiligabend bei sich zu empfangen. Und jetzt, da ich ihn sehen würde, wirkte er um einiges wirklicher als auf den Bildern, die ich in der Schublade des Nachttisches meiner verstorbenen Ehefrau gefunden hatte. Ich wusste weder wer er war noch wie er hieß und in welcher Verbindung er zu meiner Frau stand (ich befürchtete anfangs, dass sie mir fremdgegangen war), und ich war nicht umhin gekommen, den auf einem Foto versehenen Namen "Louis" in ihrem Adressbuch zu suchen. Tatsächlich hatte ich den Namen nach wenigen Seiten des Blätterns in ihrem Buch gefunden, das ich längst verräumt hatte, wie alles, das mich an sie erinnerte. Ines, so hieß sie - Scollo mit Nachnamen, der Name, den auch ich trage und der in Palermo, die Stadt in der wir zwanzig Jahre zusammengelebt hatten, nichts Ungewöhnliches mehr ist. Nachdem ich den Mann am Telefon gefragt hatte,woher er Ines kannte, hatte er mich zu sich eingeladen, um am nächsten Tag, den 24. Dezember, bei einem Glas Wein, auf die "verstorbene Nymphe" (sie war Malerin gewesen) anzustoßen. Ines starb vor drei Jahren an einen Herzanfall in ihrem Atelier, während sie an den Feinheiten eines Portraits arbeitete. Es war unerwartet, auch die Autopsie ergab nichts als weitere Fragen. Seitdem lebte ich allein, und da ich allein war, willigte ich schließlich seinem Vorschlag ein. Jetzt war ich es,
der seine Adresse in der kühlen Abenddämmerung suchte.
Die Nacht brach schließlich ein. Er war ein Fremder. Doch womöglich jemand, dessen Existenz ich lieber nicht hätte ausfindig machen wollen. Zwei Kinder, die von ihren Eltern wegrannten, kamen mir entgegen. Sie rannten ihren Eltern um einige Schritte voraus, aber nicht etwa vor Furcht oder aus Trotz, weil ihre womöglich starrsinnige Köpfe sich nicht unterwerfen wollten, es waren fröhliche Schritte, die da in den Gassen hallten. Es war die Art von Schritten, die sich auf eine Heimkehr freuten. Ich war allein. Und auch er war es, denn wie sonst hätte er auf die Idee kommen sollen, mich an diesem Tag zu sich einzuladen? Niemand verbringt besondere Anlässe, und seien sie auch nur kulturbedingt, mit einem Menschen, den er nicht kennt, wenn es bereits ein vertrautes Ohr gibt, das die eigenen Freuden und Klagen und Unsinnigkeiten erträgt. Es sei denn, dieses Ohr ist durch Tod oder Entfremdung, Schmerz oder Unstimmigkeiten verblasst. Dieses Ohr war Ines. Sie war es für mich, und womöglich - auch wenn ich es unwillig dachte - war sie es auch für ihn. Sie war es, die uns verband. Ich erreichte sein Haus, das von Efeu überwuchert etwas Märchenhaftes an sich hatte. Ich klingelte, wenige Sekunden später öffnete ein Mann meines Alters eine Tür. Er lächelte. Auch ich lächelte. Und als ich ihn ansah, fiel mir das Leuchten seiner grünen Augen auf, die - nach Ines - hervorragend auf einem Gemälde aussehen würden. Autor: weihnachtsgeschichten.net