Claras Weihnachtsabend

Claras Weihnachtsabend Lesezeit: ca. 2 Minuten Es war Heiligabend. Clara saß allein am Fenster ihres kleinen Häuschens am Stadtrand. Der Schnee fiel leise, und die Lichter der Stadt funkelten im warmen Glanz der Nacht. Es hätte ein perfekter Abend sein können – doch Clara spürte nur die tiefe Stille und Leere, die sie schon seit Monaten begleitete.

Vor einem Jahr hatte sie ihre Schwester verloren, die ihr letzter enger Verwandter gewesen war. Gemeinsam hatten sie jedes Weihnachten mit kleinen, selbstgebastelten Geschenken und langen Abenden voller Geschichten gefeiert. Doch nun waren all diese Erinnerungen nur noch Schatten, die sich in die Dunkelheit der Nacht mischten.

Clara zog die Decke enger um sich und trank einen Schluck ihres Tees. Die alten Weihnachtslieder, die sie im Radio hörte, schienen wie ein ferner Trost, eine Erinnerung an eine Zeit, die so greifbar und doch so fern war. Sie schloss die Augen und stellte sich vor, wie ihre Schwester mit ihr am Tisch saß, lachte und ihnen beiden Kakao einschenkte.

Plötzlich klopfte es leise an der Tür.

Clara erstarrte – wer würde an einem solchen Abend zu ihr kommen? Zögernd stand sie auf und ging zur Tür. Die Hände zitterten leicht, als sie den Griff drehte.

Draußen stand ein kleiner Junge, etwa zehn Jahre alt, eingehüllt in einen viel zu großen Mantel. Sein Gesicht war vor Kälte gerötet, aber seine Augen strahlten neugierig und freundlich.

"Entschuldigen Sie", begann der Junge, "aber ich habe mich verlaufen. Ich wollte zur Kirche, aber irgendwie..."

Clara lächelte zum ersten Mal an diesem Abend und bat ihn herein. Sie bot ihm heißen Tee an und fragte, ob sie seine Eltern anrufen solle. Aber der Junge

schüttelte nur den Kopf.

"Meine Eltern sind nicht hier. Ich... lebe in einem Heim. Aber jedes Jahr dürfen wir zur Kirche, und ich dachte, vielleicht finde ich dieses Jahr jemanden, der mich begleitet. Bisher bin ich immer allein gegangen. Aber Sie haben ein so schönes Zuhause, und... ich weiß nicht, ich dachte, vielleicht..."

Clara sah ihn überrascht an. Irgendetwas in seinen Worten berührte sie tief. Sie erinnerte sich, wie sie als Kind einmal Weihnachten allein im Krankenhaus verbracht hatte, als sie krank gewesen war.

"Möchtest du mit mir den Abend verbringen?" fragte sie leise. "Wir könnten zusammen ein paar Plätzchen backen, und dann können wir, wenn du willst, zur Mitternachtsmesse gehen."

Die Augen des Jungen leuchteten auf. "Das wäre toll!"

Sie verbrachten den Abend gemeinsam, lachten und erzählten Geschichten. Clara fühlte sich, als wäre das Haus plötzlich voller Leben, als würde ihre Schwester irgendwie wieder bei ihr sein.

Später, als sie zusammen zur Kirche gingen und Clara das warme Licht der Kerzen auf den Bänken erblickte, fühlte sie ein Gefühl von Frieden, das sie seit langer Zeit nicht mehr gespürt hatte. Sie wusste, dass ihre Schwester in ihrem Herzen lebte – und dass sie durch kleine Gesten der Liebe auch weiterhin anderen Trost bringen konnte.

Als der Junge sie zum Abschied umarmte und in das Heim zurückkehrte, blieb Clara eine Weile in der kühlen Nachtluft stehen. Der Schnee fiel sanft, und irgendwo in der Ferne hörte sie das leise Klingeln von Glocken.

Und als sie die Augen schloss, glaubte sie, das Lachen ihrer Schwester zu hören – warm, tröstlich und so nah, als würde sie direkt neben ihr stehen.

Autor: Silvan Maaß

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