Der kleine Weihnachtskeks

Der kleine Weihnachtskeks Lesezeit: ca. 4 Minuten Es war die Woche vor den lang ersehnten Weihnachtstagen. Eine große Menschentraube schob sich eilig durch die verschneiten Straßen, die wie von einer dicken Zuckerschicht bedeckt zu sein schienen. Überall glitzerte und leuchtete es an allen Ecken und Enden. Die Freude auf die schönste Zeit des ganzen Jahres ließ sich nicht mehr aufhalten. So auch in einer kleinen Backstube am Rande einer engen Seitengasse. Die prachtvoll geschmückten Torten, köstliches Feingebäck und eine riesige Auswahl an ofenfrischen Kuchen lockten viele Leute an, die eigentlich nur ein Brot kaufen wollten. Darauf waren die Torten und Kuchen mächtig stolz. Sie wussten, wie prachtvoll sie für das Auge und wohlschmeckend für die Zunge waren. "Wir sind die Größten hier!", rief eine dicke Sahnetorte aus Marzipan. "Und wir auch!", stimmte ihr ein altehrwürdiger Baumkuchen zu, der nach bewährtem Familienrezept gebacken wurde. "Ohne uns würde es gar kein Weihnachten geben. Guck dir mal die Kekse an - die sind nicht halb so groß und halb so köstlich wie wir." Die Kekse nahmen diese hochmütigen Worte gekränkt aber schweigend hin. Kurz darauf betrat ein Kunde den Laden, deutete auf eine Tüte Plätzchen und die Kekse wechselten ihren Besitzer.

Doch ein winzig kleiner Keks wurde von dem unaufmerksamen Bäckerlehrling zwischen zwei vollen Blechen vergessen. Ganz hinten im abgekühlten Backofen wartete er, dass man ihn herausholen würde. Vielleicht könnte ja doch noch etwas aus ihm werden. Mit Zuckerperlen oder Schokostreuseln verziert würde der kleine Keks bestimmt eine Zierde für die festliche Kaffeetafel am Weihnachtstag sein. Abends, als alle Lichter gelöscht waren, kroch der Kleine aus seinem Versteck hervor. Da! Eine Torte schlummerte friedlich in der Vitrine. Neben ihr dämmerte ein Pflaumenkuchen mit Zimt. Ihnen wollte er von seinem großen Ziel erzählen. Sie würden ihn bestimmt verstehen. Schließlich fängt jede Backware einmal klein an. So hatte es ihm das weise Ochsenauge erklärt. "He, ihr Großen", rief der kleine Keks. Der Pflaumenkuchen und die Torte erwachten aus ihrem kurzen Schlaf und sahen ihn mürrisch an. "Was willst du von uns?", herrschte ihn der Kuchen wütend an. "Geh zurück in deinen Backofen. Hier gehörst du nicht hin." "Aber ich muss euch was sagen!", entgegnete der kleine Keks. Er rollte aufgeregt hin und her. "Nun lass ihn reden", lenkte die Torte ein. "Danach lässt er uns hoffentlich in Ruhe." "Ich will mal ein richtig großer, leckerer und knuspriger Weihnachtskeks werden!", teilte er den beiden mit. "Ganz schön toll, was? Denn was ihr könnt, das schaffe ich auch. Genau. Das schaffe ich auch." Es dauerte nur einen kurzen Moment, nur einen Wimpernschlag, bis der Kuchen und die Torte vor Lachen fast platzten. "Wuhahahahaha, duuuuuuu???!!", gröhlte die Torte und verlor vor Lachen sogar ein paar Mandeln. "Selten so gelacht!", schrie der Kuchen. Er konnte sich kaum einkriegen. "Aus dir wird NIE was. Warum hat dich der Lehrling wohl vergessen? Weil er weiß, dass man solche

wie dich an Weihnachten einfach nicht braucht. Dann sind wir an der Reihe. Und jetzt verschwinde. Komm am besten nie wieder, du lächerlicher Scherzkeks!!!" Ihre bösen Worte machten den kleinen Keks unendlich traurig. So traurig, dass ihm seine kleine Seele richtig weh tat. In der Nische des Ofens krümelte er sich zusammen und weinte zuckersüße Tränen. Irgendwann, als er seinen ganzen Zucker fast ausgeweint hatte, stupste ihn jemand freundlich an. "Bist du der kleine Keks?", wurde er gefragt. Der kleine Keks drehte sich um. Neben ihm saß ein Engel mit goldenen Haaren und blauen Augen. "Ja...das bin ich. Aber ich bin kein guter Keks. Aus mir wird nie etwas. Haben die Torten gesagt." Daraufhin musste er fast wieder weinen. "Die Torten lügen", erwiderte der Engel. "Sie wissen nicht, worauf es wirklich ankommt. Die Kleinsten sind die Größten. Das haben sie nie verstanden. Aber ich komme aus dem Himmel. Im Himmel weiß man, wie das Kleine das Allergrößste und Beste auf der Welt werden kann." Nach diesen tröstenden Worten ging es dem kleinen Keks gleich viel besser. Der Engel drückte ihn an sich. Dabei rieselte etwas aus seinen Flügeln.

Kurz nach dem himmlischen Besuch war der kleine Keks wieder allein. Aber er war fröhlich. Warum? Das wusste er selber gar nicht so genau. Er wusste nur, dass etwas ganz Wunderbares passiert ist. Am nächsten Tag wurde die Bäckerei in aller Frühe geöffnet, denn die Kunden ließen an diesen Tagen nicht auf sich warten. Der Bäckerlehrling machte sich daran, die Bleche für die Brötchen aus dem Ofen zu holen. Da entdeckte er den kleinen Keks. "Wer bist du denn?", fragte er ihn. Er nahm ihn vorsichtig aus dem Backofen und schaute ihn an, als hätte er ein kostbares Goldstück gefunden, das unbezahlbar war. Die Kuchen, Torten und Teilchen erwachten allmählich aus ihrem Schlaf. "Guck mal, nun guck doch mal", sagte eine Mohnrolle und stieß den Eclair nervös an. "Sieh mal, wie schön dieser Keks ist!" Und sie sprach die Wahrheit: Aus dem kleinen Keks, dem niemand auch nur ein bisschen zugetraut hatte, war ein wunderschöner Weihnachtskeks geworden, der mit Sternenstaub aus dem Himmel bedeckt war. Sein Glanz blieb auch einer Kundin nicht verborgen, die den Laden aufsuchte. "Darf ich diesen Keks haben?", fragte sie den Verkäufer. "Noch nie hab ich in meinem Leben solch einen zauberhaften Keks gesehen." "Tut mir leid", antwortete der Verkäufer. "Der ist nicht verkäuflich. Der gehört zu uns, in seine eigene Vitrine – als schönste Kreation, die jemals aus Teig geschaffen wurde."

Der kleine Keks blickte in den Himmel und lächelte seinen Schutzengel dankbar an. Ganz oben auf einer Wolke hatte er Platz genommen. Freundlich zwinkerte er dem Keks zu, als wollte er ihm sagen: "Hab ich zu viel versprochen? Die Kleinsten sind die Größten. Nicht nur im Himmel, sondern manchmal auch in der Welt der Gebäcke."

Autor: Nina Kelli

Mehr Adventsgeschichten